Galleri und Co.: Der Traum vom Bluttest gegen Krebs – und die harte Realität
Ein einziger Bluttest, der über 50 Krebsarten frühzeitig erkennen kann – das klingt wie ein medizinischer Durchbruch. Doch hinter der Hoffnung stehen offene Fragen: Wie zuverlässig sind solche Tests wirklich? Wer trägt die Kosten? Und welche Risiken entstehen durch Fehlalarme?
Liquid‑biopsy‑basierte Bluttests wie Grails Galleri wirken auf den ersten Blick wie Science‑Fiction für die Hausarztpraxis: Ein Röhrchen Blut, ein algorithmisch ausgewertetes Profil zellfreier Tumor‑DNA – und angeblich ein Frühwarnsystem für mehr als 50 Krebserkrankungen, von Bauchspeicheldrüsen- bis Ovarialkarzinom. Der Test wird in den USA seit 2021 kommerziell vertrieben; die aktuelle Listengebühr liegt bei 949 US‑Dollar, eine Erstattung durch Krankenversicherungen gibt es bislang kaum – schon dieser Preis allein entfacht eine Grundsatzdebatte über Nutzen und Gerechtigkeit des Verfahrens.
Technologisch steckt hinter Galleri – ebenso wie hinter konkurrierenden Ansätzen von Guardant Health, Exact Sciences, Freenome oder Singlera – eine Kombination aus Next‑Generation‑Sequencing und Machine‑Learning‑Signaturanalyse. Die Hoffnung: Krebs soll nicht erst durch ein tastbares Knotenbefund, sondern Jahre zuvor durch minimale DNA‑Spuren auffallen. Entsprechend ambitionierte Studien laufen weltweit. In den USA startet die National Cancer Institute‑finanzierte Vanguard‑Studie mit 24 000 Teilnehmenden, um zwei Multi‑Cancer‑Early‑Detection‑(MCED‑)Tests gegen klassische Screeningprogramme zu vergleichen; Ergebnisse werden frühestens Ende 2027 erwartet.
Wie gut funktioniert das Verfahren aktuell? Die entscheidende Grösse ist nicht allein die Spezifität, sondern das Zusammenspiel mit der Vorvalenz. Galleri liefert in den vorliegenden Daten eine Spezifität von 99,5 %, also rund 0,5 % falsch‑positiver Ergebnisse bei krebsfreien Personen. In der prospektiven Beobachtungsstudie PATHFINDER 2 erhielten 1,4 % der über 50‑Jährigen ein „Cancer Signal Detected“; nur bei 43 % dieser Positiven bestätigte sich tatsächlich eine malignomdiagnose, womit mehr als jede zweite Alarmmeldung Fehlalarm blieb. Der Median bis zur diagnostischen Klärung lag bei 79 Tagen, bei Falschpositiven sogar bei 162 Tagen – für Betroffene eine zermürbende diagnostische Odyssee aus Bildgebung, Labortests und Biopsien.
Diese Falschpositive sind nicht nur psychologisch belastend, sie kosten. Ein im Frühjahr 2025 publiziertes Modell kalkuliert, dass die Abklärung einer positiven MCED‑Meldung im Schnitt das 1,5‑Fache der eigentlichen Testgebühr verschlingt; hochgerechnet ergibt das bei landesweiter Anwendung Milliardenbeträge, ohne einen einzigen Krebs mehr zu heilen. Andere Arbeitsgruppen propagieren zweistufige Algorithmen – etwa ein preiswerteres Vorscreening plus MCED‑Bestätigung –, um die Zahl unnötiger Abklärungen um bis zu 30 000 pro Million Getesteter zu reduzieren. Doch auch diese Modelle beruhen auf Annahmen, solange randomisierte Mortalitätsdaten fehlen.
Ökonomisch betrachtet schwanken die Antworten je nach Rechnung. Eine US‑Analyse mit lebenslanger Modellierung attestiert Galleri bei heutigem Preis einen inkrementellen Kosten‑Nutzen‑Quotienten von 66 000 bis 91 000 Dollar pro Quality‑Adjusted Life Year (QALY) – im Rahmen der in den Vereinigten Staaten üblichen Schwellen. Eine kanadische Evaluation kommt dagegen auf rund 143 000 kanadische Dollar pro QALY und stuft die Methode als nicht kosteneffizient ein. Wesentliche Stellschrauben sind Testpreis, Screeningintervall, Tumorbiologie und – zentral – der bislang hypothetische Überlebensvorteil durch eine Stadienverschiebung.
Kritik kommt nicht nur aus den Kostenabteilungen. Onkologinnen mahnen vor Überdiagnosen: DNA‑Fragmente können auch indolente Tumoren anzeigen, die Patient*innen niemals geschadet hätten. Der New Yorker spitzte die Debatte kürzlich zu: Ein Test, der immer tiefer in die Biologie späht, dürfe nicht dieselben Fehler machen wie das PSA‑Screening bei Prostatakrebs, das mehr harmlose Karzinome aufspürte als tödliche verhinderte. Ohne harte Endpunkte zur Krebsmortalität drohe ein medizinisch fragwürdiges – und finanziell ruinöses – Massenscreening.
Bleibt also die Frage nach dem „Benefit“. PATHFINDER deutet an, dass MCED‑Screening die Zahl der früh entdeckten, sonst unsichtbaren Tumoren verdoppeln könnte. Aber ob diese Verschiebung tatsächlich Leben verlängert oder lediglich die Uhr früher starten lässt, ist unbewiesen. Grosse, randomisierte Mortalitätsstudien wie NHS‑Galleri oder Vanguard werden frühestens in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts Klarheit bringen. Bis dahin tragen Patient*innen die Kosten selbst, während Gesundheitssysteme aufmerksam – und zu Recht skeptisch – beobachten.
Fazit
MCED-Tests stehen an der Schwelle zwischen bahnbrechender Innovation und teurem Irrweg. Die Technologie verspricht, Lücken im heutigen organspezifischen Screening zu schliessen; gleichzeitig lasten auf ihr hohe Evidenzanforderungen, denn ein falsch‑positiver Alarm oder ein klinisch irrelevanter Befund kann mehr Schaden anrichten als späte Diagnostik. Solange robuste Nachweise für Überlebensvorteile, faire Preise und eine strenge diagnostische Nachsorge fehlen, bleibt das Versprechen verlockend – aber vorerst ein Versprechen.