Vitaminpräparate: Zwischen Mythos und Mangel

Vitaminpräparate sind ein Milliardenmarkt – doch braucht der gesunde Mensch sie überhaupt? Und wenn ja, reichen günstige Produkte aus dem Supermarkt oder muss es das teure Markenpräparat aus der Apotheke sein?

Vitaminpillen

Vitamin- und Mineralstoffpräparate setzen Jahr für Jahr Milliarden um. Zugleich werden sie in Leitlinien und Studien immer wieder kritisch hinterfragt. Braucht der gesunde Mensch überhaupt Pillen – und wenn ja, müssen es teure Markenprodukte sein? Ein Blick in die aktuelle Forschung zeigt, dass die Antwort differenziert ausfällt.

Wer braucht überhaupt Supplemente?

Für die Mehrheit der gesunden Erwachsenen gilt nach wie vor: Eine abwechslungsreiche Ernährung deckt den Mikronährstoffbedarf ausreichend ab. Das bestätigt die US-Preventive Services Task Force, die für präventive Zwecke – also zur Vorbeugung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs – weder Multivitamine noch einzelne Vitamine wie E oder Beta-Carotin empfiehlt.

Anders sieht es in speziellen Lebensphasen oder Risikogruppen aus. Schwangere brauchen Folsäure, ältere oder immobile Menschen häufig Vitamin D, Veganerinnen und Veganer vor allem Vitamin B12. Auch hier raten Expertinnen wie die britische Ernährungswissenschaftlerin Nichola Ludlam-Raine, zunächst eine Laborkontrolle durchzuführen – und erst dann gezielt zu ergänzen.

Eine Auswertung von fast 400 000 Datensätzen der US-National Institutes of Health fand keinen Hinweis, dass tägliche Multivitamine die Lebenserwartung verlängern; vielmehr zeigte sich sogar ein geringfügig erhöhtes Sterberisiko. Damit reiht sich die Analyse in mehrere systematische Reviews ein, die für gesunde Erwachsene keinen generellen Nutzen nachweisen konnten.

Diese Einschätzung wird durch mehrere Metaanalysen gestützt: Eine große Cochrane-Übersicht zu Antioxidantien fand kein präventives Plus, registrierte dagegen einen leichten Anstieg der Gesamtsterblichkeit bei hoch dosiertem Beta-Carotin und Vitamin E. Gleichfalls zeigte die Physicians’ Health Study II zwar einen marginalen Rückgang der Gesamtkrebsrate unter Multivitaminen, jedoch keinen Effekt auf kardiovaskuläre Ereignisse.

Auch europäische Fachgesellschaften sehen keine Routine-Indikation: Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung erinnert in ihrer Stellungnahme Bunte Pillen fürs gute Gewissen daran, dass eine „vollwertige Mischkost“ den Bedarf deckt und Supplemente nur bei definierten Risikogruppen (z. B. Vitamin D bei mangelnder Sonnenexposition) angezeigt sind. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) verweist in ihren Referenzwerten zudem auf obere sichere Aufnahmemengen, die durch hoch dosierte Präparate rasch überschritten werden können.

Kognition im Alter

Ein Lichtblick kommt aus der COSMOS-Studienreihe. Dort verbesserten tägliche Multivitamin-Mineral-Kapseln in drei unabhängigen Teilstudien das episodische Gedächtnis und verzögerten die globale kognitive Alterung um rund zwei Jahre. Der Effekt war besonders ausgeprägt bei älteren Menschen mit kardiovaskulären Vorerkrankungen. Noch ist unklar, ob sich diese Vorteile auch in anderen Populationen replizieren lassen.

Vitamin D

Bei Vitamin D liefert eine aktuelle Meta­analyse Hinweis auf eine moderate Reduktion der Gesamtsterblichkeit, ohne jedoch Herz-Kreislauf-Todesfälle signifikant zu beeinflussen. Gleichwohl warnt die deutsche Verbraucherorganisation ÖKO-TEST: In 23 getesteten Vitamin-D-Produkten lag die Dosierung bei 15 Präparaten über der Grenze von 20 µg pro Tag – mit potenziellen Risiken für Hyperkalzämie und Nierensteine.

Preis und Qualität: Teuer heisst nicht zwangsläufig besser

Dass Apotheke und Designer-Label automatisch „höhere Reinheit“ bedeuten, ist ein weit verbreiteter Irrglaube. Bei ConsumerLab fielen 30 % der untersuchten Multivitamine durch, obwohl die Preisspanne vom Discounter bis zum Premiumpulver reichte. Eine weitere Analyse des gleichen Labors zeigte, dass vergleichbar hochwertige Produkte je nach Marke bis zu 300 % Preisunterschied aufweisen können.

ÖKO-TEST veranschlagte im aktuellen Vitamin-D-Test Kosten zwischen 2 und 55 Cent pro Tagesdosis – ohne Korrelation zur Bewertung. Gleich zwei der günstigsten Präparate erreichten die Bestnote, während hochpreisige Kapseln wegen Überdosierung oder problematischer Zusatzstoffe abgewertet wurden.

Auch Fachleute betonen, dass Wirkstoffform, Dosierung und unabhängige Laborkontrolle wichtiger sind als Markenimage. „Supermarkt-Eigenmarken können genauso wirksam sein wie Luxuspräparate, sofern sie korrekt dosiert und zertifiziert sind“, resümiert Ernährungsberaterin Ludlam-Raine.

Fazit: Bedarfsgerecht statt pauschal – und mit kühlem Blick aufs Etikett

Vitaminpräparate sind weder pauschal überflüssig noch Wundermittel. Wer sich ausgewogen ernährt, braucht sie in der Regel nicht. Gezielte Supplemente sind allerdings sinnvoll bei nachgewiesenem Mangel, in bestimmten Lebensphasen oder bei erhöhter Risikosituation. Dabei lohnt sich ein kritischer Blick: Preis und Prestige garantieren keine höhere Qualität, während unabhängige Prüfsiegel, realistische Dosierungen und klare Deklarationen verlässliche Kriterien darstellen.

Kurzum: Erst den eigenen Bedarf klären, dann das Etikett – und nicht das Preisschild – entscheiden lassen.